Unser Hirncache

cache„Vorstellungen sind keine Gedanken, sondern (innere, subjektive) Wahrnehmungen“

Das ist ein Gedanke!

Warum ist das nicht auch eine subjektive Vorstellung?

Ich habe ihn im Moment, im Jetzt aus der unmittelbaren Selbstbeobachtung heraus gebildet. Er stand weder in einem Buch, noch im Internet. Und ich habe ihn auch von niemandem geklaut. Leider sind wirkliche Gedanken in unserem Leben umso seltener, je älter wir werden. Ursprünglich sind wir als denkende Wesen geboren, nicht als Vorstellende. Das Denken sollen wir entwickeln, nicht das Vorstellen. Weil wir aber unser Weltbild meistens auf dieses Vorstellen stützen, ist es subjektiv. Das Denken selbst steht ausserhalb von Subjekt/Objekt!
Schon im Kleinkindalter, setzen wir den Wahrnehmungen Begriffe entgegen. Wir versuchen im Laufe der ersten Jahre das Rätsel der Dinge aufzulösen, indem wir uns denkend bemühen. Dies geschieht nach und nach und in einer äusserst grossen Ernsthaftigkeit und Anstrengung.
Daran bilden wir unser Gedankenleben aus. Im Laufe der Zeit bündeln wir solche Erfahrungen in unserm Innern und speichern sie quasi ab. So etwa wie der Browser, im sogenannten „Cache“, Daten speichert, um sie jederzeit wieder verfügbar zu halten. Wir brauchen sie dann nicht mir irgendwoher zu holen und zu „aktualisieren“ (aus dem endlosen Datennirwana), sondern können sie in Kürze aufrufen und wiedergeben.

Der „Hirncache“

Ganz ähnlich wie der Browser tun wir es auch mit unsern Vorstellungen. Was in unserem „Speicher“ übrig bleibt, in diesem „Hirncache“ , sind eben innere Bilder, genannt die Vorstellungen. Es sind Dinge, von denen wir uns (einst denkend) ein Bild gemacht haben. Dieses Bild ist gespeichert und aufgehoben und wird in ähnlichen Situationen abgerufen. Dabei brauchen wir nicht mehr zu denken! Denn wir haben es ja bereits einmal gedacht. In dieser Art und Weise erstarrt unser Innenleben allmählich, erhärtet das, was wir landläufig das „Denken“ nennen, und wir verkrusten innerlich.

Es gibt selbstverständlich Dinge, die wir nicht jedes Mal neu denken müssen. Wenn wir etwa 3×3 rechnen, dann mühen wir uns nicht jedes Mal ab, wie in der ersten Klasse, um dem Ergebnis auf die Spur zu kommen. Sondern wir entnehmen das Ergebnis quasi fertig aus diesem „Hirncache“. Das tun wir mit vielen Dingen wohl zurecht! Es gibt aber Situationen, in denen es schlicht unangebracht ist, aus dem bereits vorgestellten Ergebnis zu schöpfen. Und es ist nicht nur unangebracht, sondern asozial und durchaus auch unkünstlerisch, dies zu tun. Je mehr wir diese Seite kultivieren, umso mehr werden wir zu Automaten, Robotern.

Es ist ein fataler Irrtum, das Denken mit dem Vorstellen zu verwechseln!

Dadurch, dass wir uns mit unseren Vorstellungen in dieser Weise verbinden – und identifizieren, sodass wir darob das Denken vergessen, verhaften wir uns mit einer niedereren Dimension in uns. Genauso kann der Cache des Browsers ja nicht mit dem unendlichen Datenmeer des Internet verglichen werden. So obszön dieser Vergleich für manche computerfeindliche Menschen klingen mag (auch sie sind nur in Vorstellungen befangen!), so nahe kommt es dennoch dem Charakter dieses Faktums. Nur muss man die Sache natürlich geistiger sehen! Dort würde dieses unendliche Datenmeer (des Internet) quasi mit einem All-Einen, All-Wissenden, All-Seienden verglichen werden müssen, mit dem wir uns nur im Denken, niemals aber mit dem Vorstellen verbinden können.

Die Vorstellungen, die doch so nützlich sind „um das Rad nicht immer neu erfinden“ zu müssen, können trotzdem schwer hinderlich sein. Sie sind es an allen Orten, wo es um eine Gesinnung geht, um eine Weltanschauung oder um Selbsterkenntnis, um „Glauben“, um Religion, um alles eben, wo es um eine innere Haltung geht gegenüber dem Anderen. Nicht Abgrenzung soll erzogen werden (das tut man aber genau mit diesem „Hirncache“), sondern Verbindlichkeit, Empathie, Verständnis. Denn auch der andere Mensch hat einen solchen Hirncache erschaffen. Nur dass er dummerweise niemals kongruent ist mit meinem! Die gespeicherten Daten haben eben ihren Ursprung in den gemachten Erfahrungen und Erlebnissen. Und da sind wir alle sehr unterschiedlich geprägt.

Habe den Mut wieder zu Denken!

Menschen mit einem grossen Hirncache agieren gedächtnisorientiert. Sie sind oft redegewandt, intellektuell und haben in jeder Situation sofort die passende Meinung parat. Sie müssen nicht mehr darüber nachdenken, was ihr Gegenüber eben gerade gesagt hat, sondern schöpfen aus einem Erfahrungspool heraus, der fix und fertig vorgegeben ist. Deshalb brauchen sie auch nicht zuzuhören, was der andere sagt. Denn schon nach wenigen Sätzen stellt sich das fertige Bild ein. So ist es und nicht anders. Wie wagst du es, dies zu bezweifeln! Dabei stellt sich sofort das (in ihrem Sinne) rechte Wort ein. Ob es richtig oder falsch ist, brauchen sie nicht abzugleichen. Es wurde irgendwann einmal gedacht und fixiert. Und steht nun für immer zur Verfügung. Solche Menschen findet man überall. Sie können ebenso materiell gesinnt sein, wie auch spirituell oder hoch religiös!

Beim Denken ist das anders. Ganz anders! Es gibt nie etwas Vorgefertigtes. Zu keinem Ding, zu keiner Aussage, zu keiner Meinung, zu keiner Wahrnehmung. Alles muss immer neu, aus dem Jetzt heraus, geschaffen werden. Darin liegt ein künstlerischer Impuls. Denken ist künstlerisch. Vorstellen formalistisch. Das erste ist lebendig, das zweite tot. Denken schafft aus dem Nichts heraus etwas Neues. Es stellt der Wahrnehmung einen Inhalt entgegen und vereint sich in der Beobachtung zur Intuition. Das ist religiös!

Fazit: Füttere Deinen Hirncache nur in Notfällen. Es braucht ihn – manchmal, leider. Aber mache es Dir nicht zur Gewohnheit, daraus zu schöpfen. Entdecke die Kraft des Denkens wieder!

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Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… – Einblicke in die Kunsttherapie… ein Resume nach 25 Jahren…

Die Welt ist meine Vorstellung

Schopenhauer„Die Welt ist meine Vorstellung“. Das ist im Grunde das Credo des Ego im Menschen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, hatte der Philosoph Schopenhauer wohl recht.

Gerade in diesen Tagen, um Weihnachten und Silvester/Neujahr, treffen sich, wie alle Jahre wieder, die Familienmitglieder, Bekannten und Anverwandten zum grossen Fest, zum gemeinsamen Essen und zum geselligem Zusammensein. Nicht selten sitzen die engsten Vertrauten – denen wir dem Blute nach doch so nahe stehen – mit einem Gläschen Wein und Knabbernüsschen um einen grossen Tisch und geben ihre Standpunkte zu allen möglichen Themen zum Besten. In diesen Tagen erfahren wir ausserordentlich viel von der Art, dem Charakter und der Denkweise unserer Nächsten und stellen oft erschreckt fest, wie fern sie uns doch eigentlich sind.

Wahrnehmung und Denken

Sie sehen irgendein Objekt in der Welt, eine Situation, Menschen, Erlebnisse, irgend etwas halt. In der unten stehenden Skizze ist dies als Kreis im Zentrum dargestellt, wenn der Gegenstand real und ungefiltert betrachtet werden könnte. Durch die innere Verarbeitung verändert sich dieses „Objekt“ zu einem „Subjekt“: Es entstehen veränderte, modifizierte Bilder, Vorstellungen, Anschauungen, die mit dem wahrgenommenen Objekte nicht mehr viel zu tun haben, symbolisch dargestellt als Quadrat, Dreieck, Rhombus etc. (…in Vertretung dieser Modifikationen, die im Grunde fast bei jedem Menschen etwas anders auftreten – siehe Skizze unten).

Wir nehmen die Welt durch unsere Augen, Ohren, Hände, Füße, durch die Nase und womöglich andere weitere, für uns versteckte, Sinne wahr. Auf der einen Seite der Wahrnehmung stehen die realen Objekte da draussen. Es können aber ebenso gut Erlebnisse oder Inhalte sein, die wir durch die Sinne „in unser Inneres transportieren“. Hier aber geht danach die Post ab. Was in der Außenwelt unanfechtbar und unverrückbar, eingebettet in Raum und Zeit, vorhanden war (oder ist), verändert sich durch den Filter dieser Sinne in unserem Gehirn schlagartig. Aus (metaphorischen) „Kreisen“ werden (metaphorische) „Quadrate“, Dreiecke, Rhomben oder andere Schlingschlangformen*. Der eine sieht die Welterscheinungen so und der andere anders, thats it. So ist es halt. Nun treffen all die Vierecke und Schlingschlangformen, die eigentlich ein Kreis sind, aufeinander. Was passiert? Sie werden verteidigt bis aufs Blut, weil wir aus diesem Blickwinkel heraus bezüglich Unanfechtbarkeit und Richtigkeit unserer Wahrnehmungen keine Zweifel haben. Wir neigen kaum dazu, die eigenen Schlussfolgerungen anzuzweifeln. Zumindest oft erst gegen extreme Widerstände oder einschneidende Erlebnisse, die uns etwas – „verrücken“. Dann konvertieren wir vielleicht bestenfalls vom Quadrat zum Dreieck, oder vom Rhombus zur Schlingschlangform… was schon einem riesigen Fortschritt gleichkommt…

Anyway, in jedem von uns steckt ein Quäntchen dieser Art von Egoismus, auch wenn wir glauben hoch spirituelle Menschen zu sein. Was wir erfahren haben und was uns zugefallen ist, halten wir nur zu gerne für die objektive Tatsache der Welterscheinungen.
Das ist diesen Tatsachen recht egal. Problematisch wird es erst, wenn „Subjekte“, sprich Egos aufeinander treffen. Nicht selten führen Diskussionen dieser Art eher zu noch mehr Distanz als zuvor. Unverständnis für die Sichtweise des anderen tritt ein – und es wird fortan eher geschwiegen, als dass man sich darauf wirklich einlässt. Die Zweifel ob es so etwas wie Konsens, Einklang, Eins-Sein überhaupt gibt aus dieser Warte heraus betrachtet – die ja oft der Haltung unseres unreflektierten Autopiloten entspricht – sind mehr als berechtigt. Das Potenzial dazu liegt wenn überhaupt irgendwo, einzig und allein in unserem Denken. Nur auf dieser Ebene vermögen wir uns überhaupt erst zu verbinden mit dem Inneren eines anderen Menschen! Da jedoch unsere Wahrnehmungen sozusagen an der Peripherie eines alles durchdringenden Gefäßes sind, vermögen wir dieses Werkzeug nicht ungefiltert anzuwenden. Würden diese Filter wegfallen, so gäbe es keine Schranken mehr, das Resultat wäre uneingeschränkter Einklang!

Zwei Ebenen der Wahrnehmung

In der unten stehenden Skizze versuchte ich darzustellen, was oben ausgeführt wurde. Vielleicht wird mein Gedankengang so deutlicher und anschaulicher. Ich gehe davon aus, dass es zwei Ebenen der Wahrnehmung gibt. Die eine ist die sogenannte „Wirklichkeit“, das Reale, die Tatsachen, die uns in der Welt, objektiv (als Objekt) gegenüberstehen. Das können physische, seelische oder durchaus auch geistige „Objekte“ sein: Erlebnisse, Eindrücke, Situationen, denen wir begegnen und die wir durch unsere Sinne erfahren. Wir erfassen und erleben sie (bewusst oder weniger bewusst), aber erst in unserem Inneren! Erst wenn die „Gegenstände“ der Wahrnehmung visuell, durch die Augen, akustisch, durch die Ohren, haptisch, durch die Hände, die Füsse und so weiter, unseren Körper, das Sinnessystem, das Nervensystem und die Verarbeitung im Gehirn, erreicht haben; erst dann verwandeln sich die äusseren Objekte zu inneren (subjektiv wahrgenommenen) Vorstellungsbildern.

Daraus resultieren unsere Urteile, Werte und Sympathien, wie auch alle Antipathien den Dingen der äusseren Welt gegenüber. Dabei ist es nicht notwendig, dass diese äussere Welt nur physisch sei. Es können auch Träume in dieser Weise wahrgenommen werden und natürlich auch Gedanken, alles Gesagte, Mitgeteilte von anderen Menschen, welche wir denkend oder emotional nachverarbeiten. Mit dieser sogenannten „realen Welt“ – im Zentrum der unten stehenden Skizze – kann aber auch das All-Eine, das Wirkliche und das Wahre bezeichnet werden. In gewissem Sinne könnten wir sie gleichfalls „Gott“ nennen, je nach dem, was wir für Vorstellungen und Begriffe damit verbinden sind sie Natur und Geist gleichermassen.

Um dieses Zentrum herum ensteht eine Art „Wirklichkeitsfeld“, etwas, was uns sozusagen insgesamt „objektiv“ gegenübersteht, etwas, was ohne unser Zutun existiert und nicht durch den Filter unserer Wahrnehmungen getrübt ist. Alles, was durch diesen Filter hindurchgeht, quasi verarbeitet worden ist von unserer Persönlichkeit, von dem, was wir gemeinhin das „Ego“ nennen (wenn wir es reflektieren können!), verwandelt sich in der Weise dieses Filters und wird subjektiv. Es wird individualisiert von einem mit ganz bestimmten Erlebnissen und Umständen durchsetzten „Ich“.

Unser Denken steht an der Peripherie der objektiven All-Einen Wirklichkeit und kann sich nach zwei Richtungen hin öffnen (violette Punkte). Die meiste Zeit bleibt es jedoch durchsetzt vom individualisierten Filter der eigenen Persönlichkeit und vermag das Objektive nicht in Reinform zu schauen. Könnten wir mit diesem Denken in das Zentrum jener Wirklichkeit, mit der wir verbunden sind, eintauchen, würden wir ein gewaltiges geistiges Panorama vor uns haben! Wir würden jede Art von Färbung in der Wahrnehmung verlieren. Dieser Zustand wurde von verschiedenen geistigen Lehrern erreicht und unterschiedlich bezeichnet. Sei es die „clair voyance“, die „Erleuchtung“, „Einweihung“, „Intuition“ im höheren Sinne, oder andere Begriffe. Im Grunde geht es immer nur um dieses eine: Um die reine und ungefilterte Wahrnehmung. Leider entsteht durch die Interaktion mit dem Realen, Wirklichen, kaum, selten oder gar nie, ein reines Abbild dieser Wirklichkeit. Was in unser Inneres fließt und vom Verstand, vom Intellekt (gedanklich „einseitig“) – verarbeitet wird, sind deshalb meistens gefärbte, veränderte Vorstellungen dieser Wirklichkeit. Das ist der Grund, weshalb die Kommunikation erschwert wird. Weshalb wir uns vom Anderen und von Anderem getrennt fühlen!

Welt Vorstellung
Die verschiedenen Charaktere, die wir auch in den oben beschriebenen engsten Kreisen wiederfinden, sind natürlich unendlich breit gefächert. Und dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, Charakterzüge, die sich gleichen, eine Art Archetypus nach C.G. Jungs Definition. Sie bilden Hauptgruppierungen, die wir durch bestimmte Grundveranlagungen in jedem von uns wiederfinden können. In früheren Zeiten wurden sie in den Temperamenten des Cholerikers, Melancholikers, Sanguinikers und Phlegmatikers zusammengefasst umschrieben.

Der Sinn des Lebens

Ungeachtet dieser Temperamente muss jedoch die Tatsache dieser zwei verschiedenen Wahrnehmungsebenen unterschieden werden. Die grosse Frage bleibt bestehen: Wie kommt man darüber hinaus, wie schafft man es, sich die Wahrnemungen rein und ungefiltert einzuverleiben? Und damit verbunden die andere Frage, die sich immer wieder um den Sinn unseres Lebens und um unsere Bestimmung in der eigenen Biografie dreht: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin und was ist die wahre Bestimmung unseres Lebens?

Viele Menschen hocken auf ihren Standpunkten fest. Sie erkennen natürlich den Umstand dieser Trennung nicht und binden sich existentiell an ihre eigene Erfahrungswelt. Dadurch aber verketten sie Leib, Seele und Geist in einer „unheiligen Allianz“. Der Verlust gewisser alter und verkrusteter Meinungen und Gedanken, bedeutet für sie soviel wie der Tod. Das ist auch der Grund, weshalb sie sich so fest an ihren Grundsätzen klammern. Die Idee: Es könnte doch auch einmal anders gedacht, aus einem anderen Gesichtswinkel beobachtet werden, kommt ihnen nicht nur nicht in den Sinn, sondern sie wird, wenn sie von aussen herantritt zu einer grossen Gefahr! Sie bedeuten den Verlust ihrer eigenen Identität! Das Betrachten ihrer selbst wird zu einem Schritt in den Abgrund, zu einer existentiellen Gefährdung ihrer Persönlichkeit. Deshalb wird es vorgezogen, solche Fragen zu verdrängen, sie von sich zu weisen oder zu ignorieren.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

*Die oben angeführten Formen müssen selbstverständlich nur als Synonyme oder Platzhalter für sämtliche Wahrnehmungsinhalte verstanden werden…

Blicke hinter die Kulissen der Persönlichkeit

KettenWie eng Wahrnehmung und Denken miteinander verknüpft sind, wird üblicherweise nicht bemerkt. Denn das Bewusstsein ist in der Regel außer Stande, den Ablauf eines Erkenntnisprozesses mitzuverfolgen.

Heute sah ich auf der Fahrt zur Arbeit, die ich jeden Morgen mit dem Fahrrad unternehme, am Himmel einen kleinen dunklen Fleck. Innerhalb des kleinsten Zeitraums schaltete sich für mein Empfinden, zeitgleich mit der Wahrnehmung, der Gedanke an ein Flugzeug ein und verband sich mit dem Objekt. Was objektiv nichts anderes war als ein dunkler Fleck, wurde von mir sofort mit einem Begriff belegt. Ebenfalls praktisch zeitgleich stellte sich in mir das Gefühl „groß“ ein. Das heißt, ich empfand dieses Objekt am Himmel sehr groß, weil es von meinem Bewusstsein mit dem Gedanken „Flugzeug“ gekoppelt wurde und ich im Nu die entsprechenden proportionalen Verhältnisse konstruiert und interpretiert hatte. Ein Flugzeug am Basler Himmel ist sicher keine Seltenheit. Deshalb ist dieser Gedanke zunächst auch nicht abwegig. Schnell stellte sich durch die Art der Bewegung des Objektes heraus, dass es ein Vogel war und kein Flugzeug. Unmittelbar veränderte sich die Empfindung „groß“ um in „klein“.

Dies alles passierte in kürzester Zeit, das heißt im Bruchteil einer Sekunde. Alle diese Vorgänge in meinem Kopf geschahen zudem automatisch und ohne die Kontrolle meiner Selbst. Das Geschehen wäre völlig uninteressant in die Anti-Annalen meiner persönlichen Geschichte eingegangen, zusammen mit tausenden von ähnlichen Erlebnissen, die sich durch den Tag hindurch daran angeschlossen hätten, wenn nicht… ja was? Wenn dieser kleine Einblick nicht durch ein anderes, wacheres Bewusstsein erfolgen konnte, welches sich ganz unverhofft im Hintergrund einschaltete.

Die Abläufe von Wahrnehmung und Denken finden in der Regel im Dunkel des Unbewussten statt. Dabei schalten sich Vorgänge in das (Un-) Bewusstsein ein, die sich aus unserer Vergangenheit und aus den Gewohnheiten und Vorstellungen, welche wir, bis in die neuronalen Strukturen des Gehirns hinein, daraus gebildet haben. Dies zu bemerken ist für die meisten Gedanken dieser Art nicht möglich. Deshalb werden sehr oft auch Handlungen eingeleitet, die aufgrund solcher Wahrnehmung-Gedanken-Empfindungsketten erfolgen und dadurch nicht vollbewusst sein können.

Gewiss, nicht jeder hätte mit dem Objekt den Gedanken „Flugzeug“ verbunden. Manche hätten auch gleich den Vogel „gesehen“. Andere hätten schon gar nicht an den Himmel geschaut, oder wiederum andere hätten vielleicht an ein UFO gedacht. Je nachdem wie herum diese Ketten verbunden sind und welche Erfahrungen damit zusammenhängen, würde jeder und jede für sich etwas anderes darin sehen. Dies, obwohl es bestimmt Grenzen gibt, die das normale Verhalten überschreiten, zum Beispiel, wenn jemand mit dem dunklen Fleck den Begriff „Schwein“ verbunden hätte. Die aus den Erlebnissen gebildeten Interpretationen spielen eine ebenso wichtige Rolle und diese können durchaus bis ins Pathologische gehen. Der berühmte „Rorschach Test“ in der Psychiatrie und viele andere Wahrnehmungsphänomene, dokumentieren diesen Vorgang  deutlich.

Die meisten von uns würden jedoch kaum davon berichten können, was sich unbewusst ununterbrochen abspielt, weil sich solche Wahrnehmungen sofort wieder im Dunkel des Purgatoriums verlieren. Sie schaffen es meist gar nicht bis an die Oberfläche des Wachzustands.

Wie gesagt, allein auf der halbstündigen Fahrt von Weil nach Basel werden es vermutlich hunderte von solchen kleinen „Erlebnissen“ gewesen sein, die mir begegneten, ohne dass ich jetzt noch davon Kenntnis hätte. Einiges bleibt hängen. Meistens sind es Dinge oder Ereignisse, die eine kleine Schockwirkung hervorrufen, ein Auto, was von links auf uns zu fährt, oder sonst irgendwelche besonders auffälligen Dinge.

Unser waches Bewusstsein ist auf „Sensation“ und weniger auf „Intuition“ ausgerichtet. Alles andere als Sensation ist so langweilig oder mühsam, dass es nur schlafend oder träumend, wenn überhaupt, von uns wahrgenommen wird. Es wird nicht einmal bemerkt während dem das Auge darauf gerichtet ist. In den meisten Fällen hängen wir so „schauend“ irgendwelchen Gedanken nach, die für uns „wichtiger“ sind. Sie bilden eine Art Schleier, der sich vor das Auge schiebt und uns das Aufnehmen der Sinneseindrücke verbaut.

Was hat dies für Folgen? Es hat die Folge, dass wir uns, aus diesem Kontext heraus betrachtet, schwer vorstellen können, freie Menschen zu sein. Diese „Bewusstseinsketten“ haben einen unmittelbaren Bezug zu all den Dingen und Ereignissen, die uns jahrzehntelang als Persönlichkeit „gebildet“ haben. Aus solchen Erfahrungen wurden uns, nicht ohne Schmerzen, Urteile, Vorurteile, Meinungen, Ansichten förmlich „eingetrichtert“. Heute ist es ja ein Leichtes, dies auch mit wissenschaftlichen Methoden zu beweisen. Die Neurologie hat in den letzten Jahren viele Dinge bestätigt, die noch vor einigen Jahrzehnten als Hirngespinste irgendwelcher abgefahrener Esoteriker gegolten haben.

Es wäre fatal, wenn wir diesen Automatismen vollkommen ausgeliefert wären. Dann könnten wir in der Tat nicht mehr von „menschlicher Freiheit“ sprechen. Das ganze Rechtssystem müsste in den nächsten Jahrzehnten völlig neu überdacht werden, denn die Frage, wer die Verantwortung für unsere Taten übernehmen soll, wäre sehr komplex! Etwa so komplex, wie wenn wir die Rechtslage eines Wolfes beurteilen müssten, der ein Schaf gerissen hat.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

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