Freiheitsaspekt in der (anthroposophischen) Kunst

GoetheanumViele Menschen verstehen unter Freiheit zunächst jene nach dem bedingungslosen „tun und  lassen können, was man will“. Das ist sozusagen die „Freiheit vom Einfluss der Anderen“, von einem anderen Menschen, einem Gesetz oder einer Mode usw. Diese Freiheit ist bei dieser Darstellung nicht gemeint, sondern eine persönliche „innere Freiheit“. Also die Freiheit des eigenen Ich vor Konventionen, Modeerscheinungen, Traditionen und von den eigenen festgefahrenen Vorstellungen und Ideen.

Dies verlangt – wie immer in solchen Fragen – Selbstreflexion, aber davon soll jetzt nicht die Rede sein…

Freiheit ja! Aber von was?

Als ich vor über 30 Jahren selbst als konventioneller, junger Architekt eine Reihenhaussiedlung im Kanton Luzern plante, fand ich es total aufregend, als ich den 60-Grad und den 45-Grad Winkel für Balkongeländer „entdeckte“! Damals wusste ich etwa so viel von Anthroposophie und anthroposophischer Kunst, wie ein Schornsteinfeger vom Tiefseetauchen, aber dennoch glaubte ich mich damit aus einem dogmatischen Engpass befreit zu haben und fühlte mich den anderen „Stümpern“, die halt „noch nicht so weit waren“, überlegen.  Auch wenn das jetzt doch sehr überspitzt dargestellt ist (ich hoffe man spürt die Selbstironie), eines ist Tatsache: Man hat sich in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten, natürlich auch aus ganz pragmatischen Gründen der Materialkunde – und aus Kostengründen – so sehr an das Dogma des rechten Winkels gewöhnt, dass man sich zum Vornherein schon sämtliche Denkmöglichkeiten nach anderen Gestaltungsaspekten „verbaute“. Zudem sind Häuser ja meistens auch nicht als „Kunstwerke“ angesehen worden. Dennoch könnte man diesen Anspruch bestimmt stellen und das wird ja auch vermehrt getan. Und was hier für die Häuser gilt, kann durchaus auch in anderen Bereichen als formales Prinzip verstanden werden.
Als man vor einigen Jahren in der neueren Kunstszene den Würfel wieder entdeckte (es gibt dutzende prominente Beispiel dafür), schien mir dies wie ein Hohn auf die künstlerisch-formale Entwicklung zu sein. Man wurde sich wie es scheint irgendwie bewusst, dass man sich in den rechten Winkel und in die überzogen klare, oft kalt wirkende Linie „förmlich“ verschossen hatte. Und man fand das so sexy, dass man glaubte, eine Art Renaissance des Bewusstseins vom rechten Winkel und der „Schlichtheit“ zelebrieren zu müssen. Das Gefühl hat im Grunde bis heute angehalten, auch wenn es kaum so formuliert wird.

Anthroposophische Kunst

Viele tun sich in diesem Zusammenhang zum Beispiel schwer damit, dass bei den Anthroposophen die Häuser alle scheinbar den rechten Winkel vermeiden. Sie finden das furchtbar dogmatisch. Es sei quasi eine anthrovorgeprägte, fixe und festgefahrene Idee. Sie fragen sich, warum man denn das tue. Der so geprägte typische „Anthro-Stil“ wird einem rituell-esoterischen Akt zugesprochen, der mit einem bestimmten Menschenbild zu tun habe. Das kann man in gewisser Weise so sehen, stellt sich nur die Frage: in welcher Hinsicht? Nun haben diese Kritiker offenbar überhaupt keine Mühe damit, dass die meisten ihrer Häuser nur immer den rechten Winkel bevorzugen. Das hingegen finden sie überhaupt nicht dogmatisch. Und es hat natürlich nichts mit ihrem Menschenbild zu tun – und esoterisch ist es schon gar nicht…
Das fühlt sich etwa so an, wie dieser Spruch aus der Bibel, wo der eine den Splitter im Auge des anderen kritisiert, aber den eigenen (vermutlich rechtwinkligen…) Balken vor seinen Augen nicht wahrnimmt. Die Frage, was denn die anthroposophische Kunst mit Freiheit (im Sinne der zweit genannten) zu tun habe und was doch seit Steiners „Philosophie der Freiheit“ ihr zentrales Anliegen sein müsste, ist damit natürlich noch nicht geklärt. Aber die Blickrichtung, in die es gehen soll, wird an diesem Beispiel einigermaßen deutlich vorgezeigt.

Das geistige Potenzial in der Kunst

Was bitte soll denn das „Esoterische“  (im Gegensatz zum „Exoterischen“ – in die Aussenwelt gerichteten) in diesem Kontext sein? Eigentlich ist alles in der Welt immer zuerst als „Potenzial“ vorhanden: Ideen, Gefühle, Vorstellungen. Das haben schon Quantenphysiker wie der bekannte, kürzlich verstorbene Professor Hans-Peter Dürr erkannt. Was konkret geworden ist, hat die Ebene des Potenziellen, des (freien) Gestaltungswillens verlassen und verloren. Das geistige Potenzial ist in diesem Moment abgeschlossen, verewigt, vergewaltigt – ist absolut fertig, quasi „versteinert“, wenn es in die  endgültige, (materiellen) Form gegossen wird.
Freiheit in der Kunst würde adäquat bedeuten, Prozesse offen zu lassen. Die Möglichkeiten, die „in Potentia“ existieren, so lange heraus zu zögern wie möglich, den „Gerinnungsprozess“ in die Form, der ja gleichzeitig ein Verhärtungsprozess ist, zu bremsen und zu entschleunigen. So würde der Ausdruck mehr differenziert, verfeinert und mit einem Inneren abgestimmt.
Wenn wir z. B. sagen, das Gefühl der Lust wollen wir zum Ausdruck bringen, und wir drücken es als Würfelform aus, dann könnte man den Künstler vielleicht nicht ganz ernst nehmen. Wenn er dann das Prinzip Hoffnung ebenfalls durch einen Würfel darstellte, dann kämen doch einige zusätzliche Fragen auf. Würde er schließlich auch das Gefühl der Liebe wieder nur als würfelartiges Gebilde darstellen, dann würde wohl nur noch ein allgemeines Kulturgelächter übrig bleiben. Man würde berechtigterweise an der Kompetenz des Künstlers Zweifel haben, weil die ihm zur Verfügung stehenden Mittel der Umsetzung seiner Themen in diesem Fall sehr beschränkt wären oder besser gesagt: weil er immer nur sich selber, seinen Tick, seine Masche, seine eigene Verkalkung oder die Versklavung an eine Modeerscheinung zelebriert. Wenn dies auch pointiert dargestellt ist, so hat das aufgeführte Beispiel trotz seiner Überzogenheit nicht ganz daneben gegriffen. Vielleicht würde dem Künstler zu jedem Thema tatsächlich ein anderer „Einfall“, eine andere Vorstellung kommen, oder er würde sich schon gar nicht solchen „Themen“ stellen wollen. Vielleicht würde er etwas konstruieren, etwas zusammenbauen, ein Symbol, eine Idee nachbauen (lassen), die er oder sie gegoogelt hat, etwas „was zum Denken anregen soll“ usw.

Prozess der „Materialisierung“

Jetzt kann man fragen: „Was hat der denn immer mit seinen Würfeln! Das scheint wohl sein eigenes Problem zu sein!“ Gewiss gibt es mannigfaltige Kunstformen, die nichts mit einem Würfel zu tun haben. Es geht mir hier auch eher um ein Prinzip. Als Symbol gedacht, kann man das Beispiel als ein Synonym für alles verwenden, was eine Art Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten im umfassenderen Sinne bedeutet.
Die Ausdrucksweise eines Künstlers müsste nach meinem persönlichen Empfinden Rechenschaft darüber abgeben, was Forminhalt werden soll: Eine Art Abgleichung von Forminhalt und dem dahinter stehenden inneren „Potenzial“ müsste passieren. Er würde möglicherweise nie umfassend an dieses herankommen, aber er würde es durch immer neue Versuche mit dem Inneren abstimmen wollen, weil es ihn schlicht dazu treibt, dies zu tun. Denn das Potenzial ist eine in ihm wohnende geistige Realität, die sich durch sein künstlerisches Tun in der Materie Ausdruck verschaffen will.
Auf der Suche danach wird er vielleicht in viele irrige Vorstellungen verwickelt werden, wird mannigfaltige Gefühle wie Zweifel und Ängste, aber auch Überheblichkeit, Stolz oder Arroganz durchleben. Eines Tages wird er aus der künstlerischen Krise heraus vielleicht dahinter kommen, dass seine automatisierten und biografisch bedingten Vorstellungen nie die Wirklichkeit dieses seines inneren Potenzials freigelegt haben, sondern nur immer Schein waren, dass sie das wahre Sein eher verdeckt haben! Umso mehr müssen die ihm zur Verfügung stehenden Mittel fortan ausgeweitet, der Prozess der „Materialisierung“ (im Stoff) gebremst werden, damit er den Zugang zu dieser „heiligen“ Quelle erreichen kann.

Keine neuen Dogmen schaffen

Um auf das obige Beispiel zurückzukommen, müsste man davon ausgehen, dass ihm mit einem grösseren Spektrum an Vielfalt, ein grösseres Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen würde und er somit diesem Inneren besser und umfassender Ausdruck verschaffen kann. Hat er zwischen 1 und 360 Grad, also im Prinzip alle Winkel, zur Verfügung, so kann er seiner Inspiration näher kommen als derjenige, welcher eben nur den einen Winkel, nämlich den „rechten“ (den er sich selbst vorschreibt), zur Verfügung hat. Selbst wenn der letztere die „Entdeckung des Lebens“ macht und noch den einen oder anderen Winkel dazu nimmt, so bleibt er doch immer noch aussen vor. Man könnte selbstverständlich in gleicher Art und Weise von einem Farben-Spektrum statt von Winkeln, oder von anderen Medien sprechen.
Dies ist aus meiner Perspektive der wesentlichste Aspekt in der anthroposophischen Kunst, sozusagen die „Esoterik“ dahinter. Er steht über jedem intellektuellen Konzept. Die Krux ist allerdings, dass man eben NICHTS zum Dogma machen darf! Weder das „Rundumpanorama“, noch der linear-fixierte eine Blickwinkel oder anderes. Die Verfügbarkeit des möglichst grössten Potenzials zur Umsetzung eigener, innerer Impulse ist entscheidend und nicht ein gedankliches Konzept, selbst dann, wenn es pseudoesoterisch klingt. Insofern geht es immer ums Erleben und nicht nur um individualisierte, persönliche Vorstellungen und Konzepte; ja nicht mal nur um diejenigen Gefühle, die sich an diesen Vorstellungen orientieren. Wenngleich diese Vorstellungen, wenn sie zu „individualisierten Begriffen“ werden, quasi erst das „Salz in der Suppe“ bilden und die künstlerische Entfaltung ermöglichen, so sind sie doch immer nur die „Greifarme“ einer dahinter liegenden geistigen Potenz.

Fazit: Welche Einschränkungen, Modeströmungen oder andere Hürden man sich selbst bei diesem Prozess auch immer verschafft: dieses „Erleben“ in die materielle Darstellung hinein zu zwängen, oder es atmen zu lassen, bleibt dem einzelnen Künstler sein ganz persönliches Problem und hat ebenfalls mit (Selbst-) Bewusstseinserweiterung zu tun.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Veröffentlicht von

weth

1956 in der Schweiz geboren; Autor, Bildhauer, Werklehrer, Architekt und früher einmal Hochbauzeichner und Maurer...

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