Zusammenbruch des Systems…

ZusammenbruchDas klingt bombastisch: Der Zusammenbruch des Systems! Zunächst ist hier aber „nur“ das „persönliche System“ eines Einzelnen gemeint. Und das kann durchaus dramatisch sein. Dennoch stellt sich mit jeglichem „System“, was geschaffen wird, auch die Frage nach der Freiheit und die ist immer auch überpersönlich aufzufassen!

Alban W. hat alles verloren, oder fast alles. Da war die Trennung von seiner Frau im letzten Jahr, dann die Abwendung der eigenen Kinder von ihm und – als ob das allein noch nicht genug war – verlor er beinahe alle seine engsten Freunde, weil diese sich mit der Frau „loyalisierten“. Dazu kamen situationsbedingte Alkoholprobleme. Und es kam noch schlimmer. Seine selbständige Erwerbstätigkeit kam ebenfalls bald ins Wanken und er erlag schließlich dem Druck. Die Zeiten hatten sich eben geändert und er spürte den Einbruch der Konjunkturlage in den letzten Jahren so schmerzlich und hart, dass er seine Tätigkeit, die er übrigens immer mit großer Begeisterung und Freude über 20 Jahre lang ausgeführt hatte, aufgeben musste. Bisher brachte seine Ex-Frau den besseren Teil des gemeinsamen Einkommens auf und schuf damit eine sehr stabile, finanziell unabhängige Situation.

Eine Stelle bekam er mit seinen 59 Jahren nicht mehr. Es war in diesem Alter nicht daran zu denken, noch irgendwo unterzukommen. Überall werden „junge, dynamische“ Leute bevorzugt, solche die zwar noch wenig Lebenserfahrung hatten, aber auch weniger kosteten (und besser lenkbar waren). Nicht dass Alban etwa stur gewesen wäre, was man umgekehrt den Alten, oft berechtigt, vorwerfen kann; im Gegenteil, er war das sanfteste Lamm, das man sich vorstellen konnte und dabei war er immer äußerst flexibel und sensibel gewesen. Selbst enge Freunde, die er noch zu haben glaubte, kümmerten sich nicht um ihn, sahen seine aussichtslose Situation nicht oder wollten sie nicht wahr haben. Es wäre für manch einen von ihnen ein leichtes gewesen, dem „Freund“ irgendeinen Billig-Job anzubieten und sei es als Chauffeur oder Laufbursche in einer Bank, was er selbst dankend angenommen hätte. Stattdessen entfernten sie sich stillschweigend aus dessen Gesichtskreis, da seine Anwesenheit ihnen meistens unpassend oder sogar peinlich erschien.

Er selbst hatte längst gelernt mit 1500.- CHF im Monat auszukommen, was für Schweizer Verhältnisse mit einem durchschnittlichen Einkommen von 4000.- CHF und einer „Existenzuntergrenze“ von 3000.- CHF schon eine sehr akrobatische Leistung war. Ihm machte es nichts aus. Er verwendete sein letztes „Erspartes“, um so wenigsten noch ein paar Monate überleben zu können – bis alles aufgebraucht war. Da gab es noch einige Minijobs, die ihm immer wieder ein paar Franken einbrachten. So lebte er „von der Hand in den Mund“, wie man so schön sagt.

Er musste auf seine vielen und hochkarätigen Talente, die er unter anderem in leitender Funktion und in zahlreichen Jobs genügend bestätigt hatte, und die er über einige Jahrzehnte im Dienste der Öffentlichkeit und mit hohem Idealismus und sozialem Engagement erbracht hatte, fortan verzichten. Sie wurden nicht mehr gebraucht. Aus, fertig, Schluss. Seine „erste Karriere“ als führende Kraft in der Baubranche, hatte er vor bald 30 Jahren hinter sich gelassen, um fortan diesen im Laufe der Jahre gewachsenen Idealen nachzukommen. Er pflegte sie immer behutsam. Nun war er am Nullpunkt angelangt. Sein persönliches „System“ war zusammengebrochen.

Nun galt es, sich in solcher Weise am Leben zu erhalten, um wenigstens nicht in die bürokratischen Räder des „Sozialstaates“ zu gelangen; in die Fänge der Sozialwölfe, die ihm die letzte Achtung rauben würden und ihm das Gefühl gäben, für nichts mehr nütze zu sein. Er wollte unter allen Umständen wenigstens diese letzte Ehre seiner selbst aufrechterhalten und sich nicht untertänigst in finanzielle Abhängigkeit eines solchen Molochs begeben. Das würde nichts anderes heißen als, Sozialgeld zu beziehen und in einen Teufelskreis, den er bisher niemandem gewünscht hatte, zu gelangen. Das würde aber auch heissen, an irgendwelchen Arbeitsprogrammen teilnehmen zu müssen, die in ihm jede Möglichkeit aushöhlten, sich selbst wieder auf die Beine zu stellen, weil sie ihm die Energie und die Zeit raubten, die er dafür benötigen würde, um etwas Neues aufbauen zu können. Und all diese sinnlosen „Arbeitsbeschäftigungsprogramme“, die nur im Dienste der knapp bemessenen und gut kontrollierten „Almosen des Staates“ geschaffen wurden, und aus deren Spinnennetz sich zu befreien jede noch verbleibende Motivation untergraben würde.

Item: Sein persönliches System war also zerbrochen. Das System, in dem er eingebettet war, in dem er seine Vorstellungen verwirklichte, in dem er sein (dem Stand entsprechendes) soziales Umfeld schuf, seinen Status pflegte. War es sein Traum gewesen? Sein Traum? Er begann zu zweifeln. War es nicht richtig, daraus auszubrechen, als er fühlte, dass es ihn nicht mehr wirklich innerlich weiterbrachte? Hätte er das Spiel der ewigen Maskeraden weitertreiben sollen, die ihm auferlegt wurden, oder denen er sich mehr oder weniger unfrei stellte, nur um nicht in diese Situation zu kommen? War es so erstrebenswert, diesem (äußerlichen) aufgeputzten und geschminkten Weltbild nachzujagen, um ständig nur den erreichten Status aufrecht zu halten und weiterzutreiben?

Der Zusammenbruch des persönlichen Systems blieb ihm, bei aller Dramatik, die damit verbunden war, kein persönlicher Verlust. Im Gegenteil, er (der Verlust) konnte ihm dazu verhelfen, den persönlichen, inneren Durchbruch zu schaffen! Nicht im äußeren Sinne, aber in seiner inneren Entwicklung wurde er dadurch reifer und authentischer! Er schuf sich einen neuen, erstaunlich freien Raum, in dem er, unabhängig vom materiellen Reichtum und unabhängig vom Spiel des persönlichen Ansehens, er selbst bleiben konnte. Es ist nicht das Materielle, was seine innere Entwicklung trug und stützte, dessen wurde er sich jetzt voll bewusst. Je stärker die Verkettung mit dieser äußeren Welt blieb, umso schwieriger schien es ihm, das Wesentliche in ihm selbst zu finden, um das es ihm immer ging.

Andere schaufelten sich in ähnlichen Situationen ihr eigenes Grab. Alban W. schuf (und schaufelte) sich den inneren Freiraum, den er als begüterter Mann niemals hatte, erst in Armut. Man kann sich fragen, ob ein Zusammenbruch jeden Systems, auch eines weltweit geschaffenen (Finanz- und Gesellschafts) Systems, nicht heilende Wirkung auf die Gesamtsituation in der Welt haben würde.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

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