Intuition und Selbstbeobachtung

BildnisIm Alltagsdenken erfahre ich mich als an den sinnlich wahrnehmbaren Objekten der Welt sich orientierendes Wesen. Ich erlebe dieses Denken als getrennt von der Aussenwelt, im Inneren sich vollziehende Tätigkeit. Solange ich mein orientiert sein nur danach ausrichte, entsteht alles, was aus einer solchen Trennung geschehen muss: Zweifel, Zwist und Schmerz. Das subjektive Erleben schliesst mich von meiner Aussenwelt ab und lässt nur noch Hoffnung auf ein adäquates Erleben mit dieser Aussenwelt zu. Die Realität wird aber mehrheitlich das Trennende bleiben, weil sich meine eigenen Vorstellungen dieser Aussenwelt entgegenstellen.

Das Bemühen jeder inneren Entwicklung muss sich danach ausrichten, den Schmerz und damit alles Trennende zu überwinden. Solange sich das Denken immer wieder selbstzweifelnd an der blossen Wahrnehmung orientiert, werden sich keine Einheitserfahrungen einstellen und ich werde eine solche Einheit mit Vehemenz bestreiten!

Die Brücke zu einer neuen Erkenntnis liegt in der Überwindung des subjektgebundenen Denkens. Das ist auch jene Ebene, die von den meisten spirituell orientierten Menschen immer wieder (und wohl zu Recht) kritisiert wird. Das Erleben der Denktätigkeit in einem abgeschlossenen persönlichen Innenraum behindert die Erfahrung anderer Erkenntnisräume. Ein solcher Raum wird dann erschlossen, wenn wir uns den Wahrnehmungen und Erlebnissen gegenüber aufschliessen können. Dafür brauchen wir aber einen „neuen Blick“, welcher sich aus der Anschauung heraus den Rätseln der Welt gegenüberstellt. Was heisst das? Dies kann man besonders in künstlerischen Prozessen erleben.

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Wenn ich eine Skulptur betrachte kommen mir bestimmte Wahrnehmungen entgegen. Ich sehe – als profaner Mensch – zunächst alles, was mit dem Material zusammenhängt. Ich sehe, dass es sich z.B. um einen Granit handelt, und ich sehe z.B. solche Dinge wie die rau behauene Oberfläche. Ich entdecke Verästelungen und Maserungen im Stein und finde sie vielleicht noch „schön“. Ich sehe die Farbe und sonst noch einige Attribute, deren Begriffe mir aus meinem Alltag bekannt sind und ich bin froh darüber „alles wieder zu erkennen“! Damit habe ich mir einen Sinn für das Kunstwerk erschaffen,  der mich erfüllt.

Das sind alles Wahrnehmungen, die diesen Charakter haben: Ein Objekt stellt sich mir gegenüber (im aussen) und ich habe einen entsprechenden Begriff dafür, den ich ihm entgegenstelle (im inneren). Damit geben sich die meisten Menschen leider zufrieden. Und am Schluss, wenn sie die Kunst-Ausstellung verlassen haben und man sie fragt, wie ihnen die Skulpturen gefallen haben, mühen sie sich mit ein paar belanglosen, oberflächlichen Floskeln ab. Dies widerspiegelt ein trennendes, materiell gebundenes Denken und Beobachten, welches sich stark an den bekannten Begriffen festhält. Die Begriffe aber sind Produkte der eigenen Biografie und einer Erlebniswelt, die ich mir in vielen Jahren oder Jahrzehnten gebildet habe.

Ein anderes ist es, wenn wir auf die Skulpturen eingehen. Dazu müssen wir zunächst alle Begriffe die wir kennen hinter uns lassen und ihnen eine offene Haltung entgegenbringen. Die Formen der Welt stellen sich uns aus dieser inneren Haltung heraus bald wesenhaft gegenüber. Hier liegt der Schlüssel einer neuen Erfahrung, die erkannt werden muss. Wir erkennen z.B die Gesten in den Formen. Wir erkennen vielleicht eine aufrichtende Kraft oder entdecken etwas Schwerfälliges in ihr.

Die Form beginnt „mit uns zu sprechen“, sie wird lebendig und bekommt einen wesenhaften Charakter. Daraus ergeben sich vielleicht Aufschlüsse eines Typus, welcher sich auch in anderen Formen wieder finden lässt und welcher eine neue Qualität erschliesst. Diese lässt sich physisch-sinnlich nicht mehr festmachen. Die Begrifflichkeit verwandelt sich in etwas organisch-bewegliches und entfernt sich vom persönlich-subjektiven Standpunkt. Diese Art der Anschauung eröffnet erst einen „neuen Blick“ und neue Erkenntnisfelder. Subjekt und Objekt verschmelzen in unserer „anschauenden Urteilskraft“, die auch als Intuition bezeichnet wird.

Die Form der Anschauung bestimmt den Inhalt der Erfahrung. Es gibt für die Intuition kein innen und aussen mehr, so, wie es für das profane intellektuelle Denken gilt. In der intuitiven Urteilskraft, die zugleich eine „anschauende“  ist, fliessen Innenwelt und Aussenwelt in eins zusammen. Und hier befinde ich mich erst auf einer Ebene, die mir das Erlebnis nahe bringt, dass ich einen Gedankenraum erfahre, der sozusagen als Substanz um mich herum lebt. Sie ist für mich in der Kunst sehr real erfahrbar.

Sobald nun aber der „Gegenstand“ der Betrachtung wir selbst sind, wir also diese anschauende Urteilskraft auf uns selbst richten, fällt das Objekt und das Subjekt zusammen! Diese Form der Intuition könnten wir auch Selbstbeobachtung nennen oder eben Selbst-Reflexion. Dabei lösen wir aber das persönliche Individuum aus seiner Umgebung und erkennen in Geste, Haltung, Tätigkeit oder jeglicher Form des Ausdrucks die spezifische Individualität. Sie ist nun aber nicht wieder einem übergeordneten Typus zuzuordnen, sondern ist Typus an sich, eine Gattung für sich.

In der kleinen Schrift: „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung“ schreibt R. Steiner folgendes zum psychologischen Erkennen, beziehungsweise zu einer wissenschaftlichen Methode der psychologischen Erkenntnis: „Was Intuition ist wird hier (in der psychologischen Methode) Selbstbetrachtung. Das ist bei der höchsten Form des Daseins sachlich auch notwendig. Das, was der Geist aus den Erscheinungen herauslesen kann, ist die höchste Form des Inhaltes, den er überhaupt gewinnen kann. Reflektiert er dann auf sich selbst, so muss er sich als die unmittelbare Manifestation dieser höchsten Form, als den Träger derselben selbst erkennen. Was der Geist als Einheit in der vielgestaltigen Wirklichkeit findet (im Betrachten der organischen Natur) das muss er in seiner Einzelheit als unmittelbares Dasein finden. Was er der Besonderheit als Allgemeines gegenüberstellt, das muss er seinem Individuum als dessen Wesen selbst zuerkennen. Man sieht, dass man eine wahrhafte Psychologie nur gewinnen kann, wenn man auf die Beschaffenheit des Geistes als eines Tätigen eingeht…“ Und weiter: „…man hat in unserer Zeit (er schreibt dies 1885!) an die Stelle dieser Methode eine andere setzen wollen, welche die Erscheinungen, in denen sich der Geist darlebt, nicht diesen selbst, zum Gegenstande der Psychologie macht. Man glaubt, die einzelnen Äusserungen desselben ebenso in einen äusserlichen Zusammenhang bringen zu können, wie das bei den unorganischen Naturtatsachen geschieht. So will man eine „Seelenlehre ohne Seele“ begründen. Aus unseren Betrachtungen ergibt sich, dass man bei dieser Methode gerade das aus den Augen verliert, auf das es ankommt. Man sollte den Geist von seinen Äusserungen loslösen und auf ihn als Produzenten derselben zurückgehen. Man beschränkt sich auf die ersteren (die Äusserungen) und vergisst den letzteren (Produzenten). Man hat sich eben auch hier zu jenem… Standpunkte verleiten lassen, der die Methoden der Mechanik, Physik usw. auf alle Wissenschaften anwenden will.“

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Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und ein Kinderbuch „Ursli und der Traum vom Schiff

Der Beitrag als Audiodatei: Intuition und Selbstbeobachtung

Intuition und Selbstbeobachtung

intuitionIm Alltag orientieren wir uns gewöhnlich an den sinnlich wahrnehmbaren Objekten der Welt und verarbeiten sie. Wir erleben diese Dinge als getrennt von der Außenwelt, in unserem Inneren sich vollziehende Tätigkeit. Solange wir unser orientiert sein nur danach ausrichten, entsteht alles, was aus einer solchen Trennung immer wieder geschehen muss: Das kann Zweifel, Zwist, Zwiespalt und Schmerz, eine Entzweiung meiner subjektiven Welt mit dem wahrgenommenen Inhalt sein. Es kann aber auch ein Gleichklang, eine Einstimmung, Einverständnis zum Objekt entstehen. Je nachdem, wie unsere Beziehung dazu ist.

Dennoch schließt uns das subjektive Erleben von unsrer Außenwelt ab, immer mit der Hoffnung auf ein adäquates Erleben, welches sich durch Zustimmung ähnlich denkender Mensch kundtut. Die Realität ist das Trennende, weil sich unsere eigenen Vorstellungen dieser Außenwelt entgegenstellen oder zumindest relativ gegenüberstellen. Man wird versuchen das Trennende – und damit den Schmerz – zu überwinden. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist grundsätzlich die Suche nach einer alles umfassenden Einheit. Manche nennen sie Gott, andere Geist, wieder andere sonst irgendwie.

Solange sich das Denken immer wieder selbstzweifelnd an der bloßen äußeren Wahrnehmung orientiert, werden sich keine solchen Einheitserfahrungen einstellen. Das egoistische „ichlein“ wird eine solche Einheit mit Vehemenz bestreiten, weil sie sein Bewusstsein nicht berührt. Die linke Hirnhälfte behauptet sich gegenüber der rechten. Die Brücke zu einer neuen Erkenntnis liegt in der Überwindung des subjektgebundenen Denkens. Dieses subjektgebundene Denken ist jene Kraft, die von den meisten spirituell orientierten Menschen immer wieder (und dies wohl zu Recht) abgewertet wird. Das Erleben der Denktätigkeit in einem abgeschlossenen persönlichen Innenraum behindert die Erfahrung anderer, neuer Erkenntnisräume. Ein solcher «Raum» wird dann erschlossen, wenn wir uns den Wahrnehmungen und Erlebnissen gegenüber aufschließen können. Dafür brauchen wir aber einen «neuen Blick», welcher sich aus der Anschauung heraus den Rätseln der Welt gegenüberstellt. Aber was heißt das? An einem Beispiel aus meiner Praxis mit künstlerischen Prozessen wird dies erfahrbar.

Wenn Sie eine Skulptur betrachten, kommen Ihnen bestimmte Wahrnehmungen entgegen. Sie sehen zunächst alles einfache, was mit dem Material zusammenhängt. Sie sehen, dass es sich meinetwegen um Granit handelt, und Sie sehen solche Dinge, wie die roh behauene Oberfläche oder die Konsistenz des Steines, seine Härte und seine Kompaktheit. Sie entdecken Verästelungen und Maserungen in der Steinoberfläche und finden sie vielleicht schön. Sie sehen die Farbe und sonst noch einige Attribute, deren Begriffe Ihnen aus dem Alltag bekannt sind. Sie sind froh «alles wieder zu erkennen»! Damit haben Sie sich einen ersten Blick für das Kunstwerk erschlossen, der Sie erfüllt, sind aber dem Wesentlichen an der Form noch nicht begegnet!
Das Objekt steht Ihnen gegenüber (im Außen) und Sie haben entsprechende Begriffe, die Sie ihm entgegenstellen (innen). Damit geben sich die meisten Menschen zufrieden. Und am Schluss, wenn sie die Galerie verlassen haben und man Sie fragt, wie ihnen die Skulpturen gefallen haben, wissen Sie etwa gleichviel wie vorher. Sie wurden von trennenden Begriffen geleitet, die Ihnen zum Vornherein bekannt waren. Diese Begriffe sind Produkte der eigenen Biografie. Sie haben sie in all den Jahren gebildet und sich damit verbunden. Sie bilden letztlich das, was wir unsere Persönlichkeit nennen.

Wenn Sie auf diese Skulptur eingehen wollen, müssen Sie zunächst alle bekannten Begriffe mit grosser Offenheit hinter sich lassen.
Die Formen zeigen sich dann bald in einem anderen Licht und stellen sich uns wesenhaft gegenüber. Hier liegt der Schlüssel einer neuen Erfahrung, die erkannt werden will. Wir erkennen das Lebendige, die Gesten und Gebärden darin. Wir erkennen vielleicht eine aufrichtende Kraft oder wir entdecken etwas Schwerfälliges, eine gewisse Dumpfheit.
Genauso gut könnten wir aber etwas Wärmendes und Lichthaftes, Raumes- und Stoffkräfte in der Form erleben. Mit anderen Worten: Die Form beginnt mit Ihnen zu «sprechen», sie wird lebendig und sie bekommt einen wesenhaften Charakter. Es findet ein lebendiger Austausch zwischen dem Objekt und Ihnen statt. Daraus ergeben sich vielleicht Aufschlüsse eines Typus, welcher sich ähnlich in anderen Formen wieder finden lässt, uns eine neue Qualität erschließt, die sich physisch-sinnlich nicht festmachen lässt.

Begrifflichkeit verwandelt sich in etwas organisch-bewegliches und entfernt sich vom persönlich-subjektiven Standpunkt. Solches Anschauen öffnet den «neuen Blick» und neue Erkenntnisfelder.
Subjekt und Objekt verschmelzen in einer anschauenden Urteilskraft. Sie kann Intuition genannt werden. Die Art des Schauens bestimmt den Inhalt der Erfahrung. Es gibt für die Intuition kein innen und kein außen, wie sie es für das intellektuelle Denken gibt. In der intuitiven Urteilskraft, die zugleich eine «anschauende» ist, fließen Innenwelt und Außenwelt in eins zusammen. Hier befinden Sie sich auf einer Ebene, die Ihnen das Erlebnis eines «All-Eins-Sein», mit einem neuen Gedankenraum nahe bringt. Sie erfahren ihn gewissermassen wie eine Art «Substanz», die um Sie herum lebt und dort erlebbar wird!

Sobald der «Gegenstand» der Betrachtung nicht mehr eine außenstehende, sichtbare (oder auch unsichtbare) Form ist, sondern WIR SELBST, fallen das Objekt und das Subjekt zusammen. Wir richten diese anschauende Urteilskraft auf uns selbst. Diese Form der Intuition erfahren wir durch Selbstbeobachtung. Dabei lösen wir das persönliche Individuum aus seiner Umgebung heraus und erkennen es in Geste, Haltung, Tätigkeit oder jeglicher «Form» des Ausdrucks als spezifische Individualität wieder. Die «Form» ist (in der Selbstbetrachtung) nicht als ein übergeordneter Typus erfahrbar, sondern wird ein Typus für sich, oder auch eine Gattung für sich: ein Individuum.

In dem Buch: «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung» schreibt Rudolf Steiner folgendes zum psychologischen Erkennen, beziehungsweise zu einer wissenschaftlichen Methode der psychologischen Erkenntnis, auf die sich dieses Erlebnis bezieht:

„Was Intuition ist wird hier (…in der psychologischen Methode…) Selbstbetrachtung. Das ist bei der höchsten Form des Daseins sachlich auch notwendig. Das, was der Geist aus den Erscheinungen herauslesen kann, ist die höchste Form des Inhaltes, den er überhaupt gewinnen kann. Reflektiert er dann auf sich selbst, so muss er sich als die unmittelbare Manifestation dieser höchsten Form, als den Träger derselben selbst erkennen. Was der Geist als Einheit in der vielgestaltigen Wirklichkeit findet (…im Betrachten der organischen Natur…) das muss er in seiner Einzelheit als unmittelbares Dasein finden. Was er der Besonderheit als Allgemeines gegenüberstellt, das muss er seinem Individuum als dessen Wesen selbst zuerkennen. Man sieht, dass man eine wahrhafte Psychologie nur gewinnen kann, wenn man auf die Beschaffenheit des Geistes als eines Tätigen eingeht…“

Und weiter:
„…man hat in unserer Zeit (…er schreibt dies 1885!) an die Stelle dieser Methode eine andere setzen wollen, welche die Erscheinungen, in denen sich der Geist dar lebt, nicht diesen selbst, zum Gegenstande der Psychologie macht. Man glaubt, die einzelnen Äußerungen desselben ebenso in einen äußerlichen Zusammenhang bringen zu können, wie das bei den unorganischen Naturtatsachen geschieht. So will man eine „Seelenlehre ohne Seele“ begründen. Aus unseren Betrachtungen ergibt sich, dass man bei dieser Methode gerade das aus den Augen verliert, auf das es ankommt. Man sollte den Geist von seinen Äußerungen loslösen und auf ihn als Produzenten derselben zurückgehen. Man beschränkt sich auf die ersteren (…die Äußerungen…) und vergisst den letzteren (…Produzenten…). Man hat sich eben auch hier zu jenem… Standpunkte verleiten lassen, der die Methoden der Mechanik, Physik usw. auf alle Wissenschaften anwenden will.“

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

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