Vogel friss oder stirb…

VogelaquarellDialogbereitschaft oder das Kämpfen für eigene Ideale, was ist wichtiger? Diese Frage stellt sich mir zunehmend, wenn ich versuche, unbefangen in die Welt zu schauen. Sicher, es gibt viel zu tun, um eine „bessere Welt“ zu schaffen!

Nur: eine „bessere Welt“?!? Was ist die „bessere Welt“? Manche Stimmen sagen: „Ja, das liegt doch auf der Hand, diese Welt ist doch voller Abzocker und Egoisten! Jeder schaut nur noch für sich! Vogel friss oder stirb! Das muss die Devise sein…“  Der Spruch war übrigens auch die Devise eines großen europäischen Diktators zu Beginn seines Wirkens in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts… „Wenn du nicht für dich schaust, dann schnappt dir der Andere die besten Brocken weg. Du kommst zu nichts, wenn du dich nicht durchboxt!“ Zumindest bis vor drei, vier Jahrzehnten waren Parolen wie diese, trotz aller Erfahrungen eines fürchterlichen Kriegs, so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. Heute ist man da schon etwas vorsichtiger geworden mit Aussagen dieser Art. Die Worte werden gewiss immer milder, aber die Taten sind dieselben (oder schlimmer) geworden, nur verdeckter. „Was redest du da von Dialogbereitschaft? Zuerst müssen wir doch die bestehende Welt „verbessern“! Was soll das ganze Geschwafel von Dialog und so, miteinander reden… wenn es doch keine Resultate gibt? Was es braucht, sind doch in erster Linie Taten. Unsere Ideen und Parolen sind die besten!“

Diese Argumente bringen jeden hintergründigen Denker schnell zum Schweigen (oder ins grübeln…). Es scheint tatsächlich so zu sein, dass es oft an Taten mangelt! Die Frage ist nur, weshalb mangelt es daran? Wenn ich auf das globale Finanzsystem schaue und auf die Turbulenzen der letzten Jahre, wo vor allem die mittleren und kleinen Einkommen/Betriebe wieder dran glauben mussten, dann scheint es mir auch so, dass es an Taten mangelt. Aber wie sieht die Lösung des Konfliktes aus? Es gibt eben keine Lösung, es gibt nur immer wieder viele Lösungen! Und da liegt das Kernproblem. Es gibt sehr viele (durchaus gute) Konzepte, Stichwort „Grundeinkommen“, „Vollgeldreform“ bis hin zu interessanten Tauschgeldsystemen, zinslosen Geldsystemen und so weiter und so fort.

Alle wollen im Grunde nur das Eine, aber keiner wird es wohl wirklich schaffen, die vielen Herren (und wenigen Damen) an den Schaltern der Macht zu stürzen. Warum? Weil es zu viele in der Grundausrichtung ähnliche, aber in der Ausführung verschiedene, Ideen gibt! Und dabei glaubt jeder ausschließlich an SEINE Lösung, an SEIN Ideal. Keiner ist bereit, auf das Andere, auf den Anderen, einzugehen. Dies scheint das Grundübel der Zeit zu sein. Und so komme ich halt schon wieder zum Thema Dialog! Es wird letztlich jeder ein Verlierer sein, der nicht bereit ist, sich auf andere Ideen einzulassen. Solches relativiert das: „Ist doch klar, MEINE Lösung ist die Beste, sieht doch jeder ein, der einigermaßen vernünftig denken kann!“

Die Wahrheit liegt nicht im Mein, (haben im Übrigen Schopenhauer, Kant und viele andere bereits erkannt): Die Welt ist meine Vorstellung, sagen sie. Und wenn die Welt nur meine Vorstellung ist, dann sind auch meine Ideale eben NUR meine Ideale. Die große Frage bleibt also bestehen: Wie kommen wir auf diese Weise zu gemeinsamen Lösungen, zu Konsens? Indem sich viele Lösungen zusammenfinden und mischen? Faule Kompromisse also?
Nein! „Wo zwei oder mehr in meinem Namen…“ usw. – „…bin ich mitten unter ihnen…“, so heißt es doch im christlichen Kontext? Und das ist wahr! Damit ist gewiss kein Kompromiss gemeint, und schon gar kein fauler, sondern etwas Neues, was sich aus dem Zusammenwirken vieler ergibt! Und das bedingt eben den Dialog! Das hat nichts mit Friede, Freude, Eierkuchen zu tun. Es kann sogar ein harter Kampf und intensive Auseinandersetzung bedeuten. Das bedingt ein aktives und kreatives Eingehen auf den Anderen, das Andere, das Fremde. Ein „Retreat“ von eigenen Denkmuster und Gedankenkonstrukten sozusagen, von jahrzehntelang gepflegten und einverleibten Idealen, Meinungen und Vorstellungen. Und das ist verdammt schwer!

Warum gibt es denn so viele verschiedene (gute) Lösungen? Und nicht nur für unsere Wirtschaft: Jeden Tag sieht, liest und hört man es doch in den Medien: es wird gestritten und debattiert, unverrückbar auf Standpunkten herumgeritten. Eben: Unverrückbar. Keiner bewegt sich hin zum Anderen, lenkt ein bisschen ein, weil man immer das Gefühl hat, das eigene müsse doch das Beste sein für alle, das Objektive, Urteil des „gesunden Menschenverstandes“. Und man könnte dabei das eigene Gesicht verlieren! „Die anderen kapieren es einfach nicht, aber sie werden schon noch dahinterkommen, wenn…usw.“: Ohne diese Grundhaltung kann man in der Politik einpacken. Doch niemand verliert sein Gesicht, sondern gewinnt unbedingt etwas Wesentliches dazu: Vertrauen…

Ist es so schwierig vorauszusehen, dass sich unter diesen Umständen auf Dauer niemals etwas wirklich und nachhaltig verändern lässt? Sehen wir es nicht seit Jahrzehnten zum Beispiel im nahen Osten oder bei anderen unaufhörlichen Konflikten? Sind die Positionen der Mächtigen dort auch nur ein Mü aneinander gerückt; trotz scheinbaren Zwischenlösungen, Waffenstillständen und akrobatischer rhetorischer Eskapaden? Die Medien berichten im Grunde immer dasselbe, seit Jahrzehnten. Die Entwicklung mag zyklisch sein, aber ohne nachhaltige Aufwärtsbewegung! Und sie wird es solange bleiben, bis man vielleicht irgendwann endlich aufeinander zugeht. Das heißt aber, etwas von sich selbst abgeben zu müssen, einen Standpunkt zu verändern, einen Seitenblick wagen, offen sein. Jeder/jede muss ein Zäckchen aus seiner eigenen Krone picken oder mehrere. Was übrig bleibt, ist vielleicht nur noch eine Kappe, aber die gibt wenigstens warm…

Abgeben?!? Oder gar etwas schenken!?! Was für Unworte! Das ist das Gegenteil von dem, was heute gefordert wird! Wer sich seinen Anteil nicht selber nimmt, dem wird er genommen! Nur ja nicht ABGEBEN oder SCHENKEN! Alles muss stets wachsen (ausser die Löhne der Arbeiter). Wachstum geht über alles, sogar über Leichen! Immer weiter, immer höher, immer schneller – und immer mehr…

Doch auch die Natur kennt nicht nur Wachstum.
Was wäre der Jahreslauf, wenn wir ihn ausschließlich auf Wachstum beschränkten,
wenn die Blätter im Herbst nicht mehr fallen würden,
sondern endlos wachsen müssten?
Meines Wissens nennt man dies Phänomen auch Krebs…

Weniger ist nicht immer ein Verlust?
Ein weniger an materiellem wird mit Sicherheit ein Mehr an Freude,
Glück und Zufriedenheit bringen…

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Veröffentlicht von

weth

1956 in der Schweiz geboren; Autor, Bildhauer, Werklehrer, Architekt und früher einmal Hochbauzeichner und Maurer...

Ein Gedanke zu „Vogel friss oder stirb…“

  1. Da stimme ich zu: „Ein weniger an materiellem wird mit Sicherheit ein Mehr an Freude,
    Glück und Zufriedenheit bringen…“. Genau darum geht es auch in meiner Installation „Des Kaisers neue Kleider!“ Auch der Vergleich mit dem Krebs ist sehr zutreffend!

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