Woher kommen eigentlich unsere Urteile?

UrteilZiel jeder persönlichen Entwicklung ist wohl fast für jeden Menschen die Erlangung einer größtmöglichen Freiheit.
Dass diese Freiheit zunächst vorwiegend aus egoistischen Bedürfnissen jedes einzelnen besteht, mag nachdenklich stimmen, kommt aber für mündige Mitdenker nicht wirklich überraschend daher. Tiefer gemeinte Freiheit bedingt ein Wissen über unsere eigenen Intentionen und Handlungen. Denn nur aus der Bewusstwerdung der eigenen Motive kann ich erst anfangen davon zu sprechen, frei zu werden.

Diese Art Freiheit umfasst nicht nur die Umwelt, die so zu sein hat, wie ich meine, dass sie sein müsste, um mein eigenes Leben zu optimieren. Sie umfasst mich selber mit. Sie umfasst mich und meine Motive im Bezug auf die Welt.

Das Bewusstwerden dieser Ebene bedingt eine tiefere Erkenntnis. Der Standpunkt wird sozusagen aus der eigenen Persönlichkeit ausgelagert. Das ist nicht der Normalzustand unseres Bewusstseins. Das normale Vermögen von Wachheit reicht nicht über die Persönlichkeit hinaus. Deshalb fällen wir unsere Urteile in der Regel nur nach den Kriterien dieser Ebene. Sie sind gefärbt durch unsere Erlebnisse und Erfahrungen. Diese sammeln sich im Laufe der Jahre um einen unsichtbaren Kern. Es ist dies sozusagen die reine Essenz unserer Individualität. Sie wird bei jedem Neugeborenen bereits wahrgenommen. Schaut das kleine Kind durch seine Augen in die Welt, dann erblickt es diese noch rein.

Wenn wir durch die Straßen gehen und die Dinge durch unsere Augen sehen, dann erscheinen sie uns nicht mehr so, wie sie wirklich sind, sondern getrübt. Es schieben sich sozusagen Filter dazwischen. So werden unsere Urteile gefärbt. Das kleine Kind, welches noch keine solchen Filter hat, sieht die Dinge wohl reiner, kann sie aber intellektuell nicht verarbeiten. Das lernt es erst später, wenn sich der Verstand einschaltet. Und dass sich dieser Verstand einschaltet, macht auch durchaus Sinn. Dadurch erfahren wir die Welt bewusster und können sie mitgestalten. Wir sammeln Erfahrungen und gewinnen Sicherheit. Wir verwerten die Dinge und bringen unsere Talente ein. Daran ist nichts zu meckern.

Es ist der Sinn unserer Existenz, Werte zu schaffen, die unserem persönlichen Vermögen entsprechen. Warum also sollten wir daran etwas ändern? Warum sollten Urteile etwas schlechtes sein? Sie werden erst dann problematisch, wenn sie uns entführen und uns von unserem wahren Kern entfremden. Und das tun sie dann, wenn sie einfrieren. Wenn die geistige Beweglichkeit und Offenheit beeinträchtigt wird. Und dies geschieht immer dann, wenn wir die dahinter liegenden Motive vergessen: Den Urgrund jener Erkenntnis, die zum Urteil führten. Die Verbindung mit diesem Urgrund muss erhalten bleiben. Tut sie es nicht, verselbständigt sich das Urteil sozusagen. Unser Bewusstsein verschmilzt damit, verhaftet sich damit. In diesem Akt liegt die Entfremdung und die Abspaltung von unserem Kern. Von den Moment an ist es aus mit der Freiheit, weil wir die Intentionen der Handlung nicht mehr im Griff haben und daher nicht mehr begreifen.

Urteile müssen ja nicht zwingend negativ sein. Sie können auch sehr positiv sein. Wir können soziale und loyale, menschenfreundliche Urteile haben. Wir können aber ebenso gut von irgend etwas besessen sein. Von einem religiösen Glauben zum Beispiel oder einem Guru. Oder von irgendwelchen bösen Menschen, die wir umbringen müssen, damit die Welt besser wird usw. Der Inhalt des Urteils ist also nicht das Problem der Freiheit, sondern die Selbstvergessenheit im Sinne einer Abspaltung vom individuellen Kern. Der Verlust eines tieferen Bewusstseins, welches durch Dogmen und Konventionen zugepflastert ist, verfestigt uns in einer abgespaltenen Persönlichkeit, die wiederum aus vielen Teilpersönlichkeiten besteht. Darin verwirrt sich unser Geist, was letztlich die Folge jeder psychischen Störung ist.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft?

Veröffentlicht von

weth

1956 in der Schweiz geboren; Autor, Bildhauer, Werklehrer, Architekt und früher einmal Hochbauzeichner und Maurer...

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